5.2. Motivwahl

Die genaue Motivation zur Wahl des „Musen-Mosaiks“ kennen wir nicht. Vielleicht lag die Wahl an der zeitgenössischen intellektuellen Mode, das Bodenmosaik als Teil des mentalen Mobiliars einer kultivierten Oberschicht und somit als Ausdruck einer symbolisierten Zugehörigkeit anzusehen, abhängig vom Grad der Bildung? Einer Zugehörigkeit, die ein Motiv auswählt, um des Motivs willen? Wobei die Wahl wohl hauptsächlich durch die Funktion bestimmt ist, die das Kunstwerk in Vichten erfüllen sollte. Dem stand der Künstler zur Seite, der mit der „mnemonischen“ Kraft und seiner künstlerischen Ausbildung in der Lage war, eine sinngemäße Erfassung des Mosaikbildes symbolhaft und lesbar darzustellen. Der gebildete Betrachter bediente sich des Zusammenhangs des Bildes und des piktografischen Kodes hinter den Attributen der Dargestellten, während dem weniger gebildeten die zuweisende Namensbeischrift half, das Geheimnis des Mosaiks zu entschlüsseln. Anregende Debatten waren garantiert.

Auf jeden Fall wählte der Bauherr als Motivprogramm für das Mosaik den Dichterfürsten HOMERVS und die ihn begleitenden neun Musen. Aus dem römischen Imperium sind knapp 50 Mosaiken () mit Musendarstellungen als erzählende Kunst in leicht und klar ablesenden Formen bekannt. Dass die Musen schon 500 Jahre früher ein beliebtes Motiv waren, zeigt ein attischer, weißfiguriger Volutenkrater aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. eindrucksvoll. Im mittleren Fries sind neun Musen in bewegter Szenerie abgebildet (siehe Abb. 186) und anhand ihrer Attribute kenntlich gemacht.

Expand Expand Abb. 186
Attischer, weißfiguriger Volutenkrater, 5. Jahrhundert v. Chr. (Quelle: Antikensammlung und Glyptothek, München)

In der griechischen Mythologie war die Muse ehemals die Tochter des ZEUS und der Titanide MNESOMYNE, der Erinnerung (griech. mnesomyne = Gedächtnis) und wohnte im Olymp, dem Götterhimmel (). Das Wort Muse leitet sich von musa, der Fähigkeit, durch die Geisteskraft beziehungsweise Intellekt, etwas zu erschaffen, ab. Die Zahl der Personifikationen des geistigen Strebens variierten und wurden mit der Zeit im Altertum von vier (CALLIOPE, VRANIA, CLIO und EVTERPE) auf neun Musen erweitert, um die Charakteristika der verschiedenen Denk- und Geistesfähigkeiten besser differenzieren zu können. Als Erster tat sich der griechische Literat und Bauer HESIODOT vor 2700 Jahren hervor, indem er in seiner Theogonie, die nach ihm benannte „hesiodische“ Reihenfolge der nun neun Musen mit der Benennung festlegte, wie sie wörtlich illustriert auf dem „Musen-Mosaik“ aus Vichten wiedergegeben werden (). Die entsprechenden Attribute und Zuständigkeiten wurden den Musen erst später zugeschrieben und wechselten im Laufe der Jahrhunderte. Die Darstellung des HESIODOT ist auch künstlerischer Teil des „Monnus-Mosaiks“ aus Trier. Dort, wie auch auf dem Vichtener „Musen-Mosaik“ sitzen einige Musen, andere stehen und verteilen sich auf acht parataktische Achtecke, den Medaillons, um das Zentrum.

Ehemals im Olymp wohnend, als Sängerinnen im Chor bei den Festgelagen der Götter anwesend, mussten nun die imaginären neun Musen aus den Sphären herabsteigen und Homer beistehen um ihn im kreativen Schaffensprozess der Poesie zu inspirieren. Durch die mit der Zeit einhergehende Transformation zur Poesie hin, veränderten sich auch zwangsläufig Eigenschaften und der Ort, nun das Nymphäum, der ehemaligen Chorsängerinnen: CALLIOPE wird die Muse des epischen Gesangs. Als Attribut bekommt sie eine Buchrolle. So auch POLYMNIA, die die Hymnenpoesie vertritt. VRANIA, die Sternkundige mit der Himmelskugel und einer Buchrolle übernimmt die Poesie des astronomischen Gedichts. CLIO, mit Buchrolle und Tintenfass als Attribut, wird zur Geschichtsschreiberin. Den frohen Genuss übernimmt die Flötenspielerin EVTERPE, und die maskentragende THALEIA die dramatische Poesie, die Komödie. Ihr gegenüber gesellt sich die ebenfalls maskentragende MELPOMEN, die Muse der Tragödie im langen Gewand. Die Muse TERPSICHORE, erst als Muse des Chortanzes mit Kithara und Plektron, später als Muse der lyrischen Dichtung mit Lyra. Im langen Chorgewand erscheint uns AERATO, die Muse der Liebesdichtung. Sie tauscht mit TERPSICHORE das Instrument und spielt jetzt Kithara.

Ein Mosaik aus der Mitte des 3. Jahrhunderts aus Trier zeigt die beiden Musen Klio (Buchrolle und Griffel) und Euterpe (Flöte?) in einem Fenster (siehe Abb. 185). Auch auf dem Vichtener Mosaik sind die Musen nebeneinander dargestellt. Beide unterhalten sich auf breiten Sesseln angeregt, eingerahmt von Windgöttern in den Eckzwickeln. Der Federschmuck der Sirenen im Haar kennzeichnet die Musen. Schon Homer () erwähnt Sirenen - in der griechischen Mythologie Mischwesen aus Menschen und Vögel - in der Erzählung der Odysseus. Sie locken Schiffer durch ihren betörenden Gesang ins Verderben. Entgegen der Vichtener Positionierung in der Hierarchie der Medaillons, sind auf dem Trierer Mosaik die beiden Musen in der Hauptsichtachse dargestellt.

Den Musen haben wir auch die Begriffsdefinition des Mosaiks zu verdanken. Musen und Nymphen bewohnten in der griechischen Mythologie die Grotten, das Nymphäum mit seinen Quellen am heiligen Berg Helikon in Böotien (). Hieraus leitet sich das Synonym von museum beziehungsweise musaeum ab für die Ausgestaltung der Grottenwände. Zu den Musen gesellten sich die Dichter und Denker, um in der stillen kühlenden Umgebung der Dichtkunst zu frönen. In Anlehnung an die künstlerische Ausstattung der Grottenwände und unter dem wohlwollenden Patronat der Musen nannte sich der römische Wandmosaizist museiarius1.


  1. . MVSEIARIVS. S. 23. „Die Berufsbezeichnung museiarius ist lediglich auf zwei Grabsteinen überliefert. Sie leitet sich von museum bzw. musaeum ab, das als Synonym für Nymphäum angesehen werden kann. ↩︎

Bibliografie

Donderer 1989
Donderer, M. (1989). Die Mosaizisten der Antike und ihre wirtschaftliche und soziale Stellung. Erlangen.
Krier & Reinert 1995a
Krier, J. & Reinert, F. (1995). Homer und die neun Musen bei den Treverern. In Antike Welt, 64(3), S. 237-238. Mainz.
Stoll 1984
Stoll, H. W. (1984). Mythologie der Griechen und Römer. Essen.