Die „sprechenden“ Teller des Museums
Die „sprechenden“ Teller des Museums
Seit der Antike werden Geschichten und Mythen auf Keramik dargestellt. Im 19. Jahrhundert kam die Mode der so genannten „sprechenden“ Teller auf, deren Spiegel (also die Vertiefungen in der Mitte) mit Bildern und deren Legenden bedruckt waren. Diese Teller mit ihrer reichen und vielfältigen Ikonographie erfreuten sich in ganz Europa großer Beliebtheit bei einem breiten Publikum. Auch Villeroy & Boch, deren luxemburgische Produktionsstätte sich in Septfontaines (zu Deutsch Siebenbrunnen, in Rollingergrund gelegen) befand, konnte sich dieser Mode nicht entziehen. Das Nationalmuseum für Archäologie, Geschichte und Kunst (MNAHA) besitzt eine ansehnliche Sammlung solcher Teller sowohl Luxemburger Herkunft als auch von anderen europäischen Steingutmanufakturen.
Ihr Entstehen verdankt diese Art von Objekten zwei technischen Neuerungen, die im Jahrhundert zuvor in England entwickelt worden waren. Die erste ist die Entwicklung und der Erfolg des Steinguts. Dieses gut formbare Material hat eine höhere Qualität als gewöhnliche Fayence und versucht die Optik von Porzellan zu imitieren, ist aber nicht so teuer wie dieses. Steingut war der Erfolgsgarant der Manufaktur in Septfontaines seit ihrer Gründung durch die Gebrüder Boch im Jahr 1766. Die zweite Neuerung ist das Umdruckverfahren (erstmals 1823 in Septfontaines angewandt), das heißt die mechanische Übertragung einer Grafik mittels eines dünnen Bildträgers aus Papier oder Gewebe auf Keramik. Beide Errungenschaften erlaubten es den Manufakturen, ihre Kosten gering zu halten, die Produktion zu steigern und so den Verkaufspreis zu senken. Diese Demokratisierung der Keramik führte zur Erweiterung und Diversifizierung des Kundenkreises.
Die Beliebtheit der sprechenden Teller erklärt sich zum einen aus der Begeisterung der Gesellschaft für illustrierte Zeitschriften, die ähnlich den Tellern mit gedruckten Bildern vom Zeitgeschehen berichteten. Alle Themen kamen dabei zur Sprache: Jagd, Religion, Sitten und Bräuche, Geschichte, Politik, Reisen, aktuelle Ereignisse, Erzählungen, Fabeln usw. Dieser Eklektizismus beruht auf dem kommerziellen Bestreben, jeden Geschmack anzusprechen und so eine Kundschaft aus allen sozialen Schichten und Kreisen zu erreichen. Zum anderen erfuhren die Tischsitten im 19. Jahrhundert einen Wandel, indem der Service à la française – bei dem mehrere Gerichte gleichzeitig serviert wurden – vom Service à la russe abgelöst wurde. Diese neue Speisenfolge, bei der die Gerichte nacheinander aufgetragen werden, ließ mehr Platz für das Geschirr auf dem Tisch und erlaubte damit die Entwicklung des individuellen Tellers.
Die sprechenden Teller bilden in den meisten Fällen zwölfteilige Serien – es gibt jedoch auch Serien mit nur sechs oder auch mehr Tellern – und zeigen jeweils unterschiedliche Motive mit Bildunterschrift (manchmal auch mit Nummer und Überschrift) zu ein und demselben Thema, wobei jedes Bild auch einzeln zu verstehen ist. Die Teller wurden anfänglich bei Tisch benutzt, die Dekore traten im Verlauf der Mahlzeit zutage und belebten das Gespräch. Mit der Zeit wandelte sich ihr Gebrauch und sie wurden zu Ziertellern, die Wände und Geschirrschränke schmückten. Diese Verschiebung zum Dekorativen wirkte sich auf die Form des Tellers aus. Hatte dieser anfangs einen Spiegel mit einer Hauptvignette und eine Fahne (Tellerrand) mit einem Nebendekor (Blumen, Blattwerk, Tiere usw.), so verschwand diese Aufteilung allmählich zugunsten einer gänzlich flachen Form mit einem Hauptdekor über die gesamte Fläche.
Die Hauptmotive wurden würdevoll präsentiert oder humoristisch bzw. satirisch verarbeitet, mit dem Ziel, politische, religiöse oder moralische Botschaften zu vermitteln und so die Bevölkerung zu bilden. Diese Bilder waren entweder Originalwerke vom Graveur der Steingutfabrik (etwa Nicolas Liez, der von 1837 bis 1851 Graveur in Septfontaines war und viele Landschaftsvignetten schuf), von beauftragten Künstlern oder Spezialhändlern oder es waren Kopien, die nach anderen Werken wie Gemälden, Grafiken aus Reiseberichten, Reiseführern, Büchern oder Zeitschriften, anderen sprechenden Tellern usw. angefertigt wurden. Die kopierten Werke wurden oft in der Größe angepasst und allzu komplexe Motive vereinfacht, um sie für die Teller passend zu machen. Mitunter wurden für die Vignetten auch Druckformen eines anderen Fabrikanten wiederverwendet. Tatsächlich war es nicht ungewöhnlich, dass zwei Steingutfabriken Handelsverträge abschlossen – wie es 1837/38 zwischen Villeroy & Boch Septfontaines und Saargemünd geschah – und Motive, Inspirationen oder Druckplatten austauschten.
Jagd
Die Jagd war den Gutsherren und Adligen vorbehalten bis die Französische Revolution dieses Privileg abschaffte. Im 19. Jahrhundert konnte jeder mit einer Genehmigung auf die Jagd gehen, die bald für viele zu einem beliebten Zeitvertreib wurde. Die Teller zeigen verschiedene Momente oder Techniken der Jagd oder das gejagte Wild. Mit zunehmender Etablierung des Kolonialwesens entstanden auch Jagdszenen mit exotischen Tieren, die als kostbare Trophäen galten. Daneben wurden viele humoristische Serien produziert, die von naiven und ungeschickten Jägern oder schlechten Schützen handelten.
Soldatenleben
Viele sprechende Teller haben den Krieg und das Soldatenleben zum Thema. Bewaffnete Konflikte waren im 19. Jahrhundert zahlreich und die Armee spielte eine wichtige Rolle in der Gesellschaft. Illustriert wurden sowohl aktuelle Kriege (wie der Krimkrieg) als auch historische Ereignisse, die bis zu Alexander dem Großen zurückreichen. Stets sind dabei die Armee, die Anführer oder die Generäle als strahlende Helden dargestellt. Die ruhm- und ehrenvolle Inszenierung war darauf ausgerichtet, Bewunderung und Patriotismus zu erwecken. Im Gegensatz zu diesen ernsten Darstellungen wurden das Militär und das Kasernenleben auch auf humoristische, ja mitunter karikaturistische Weise behandelt. Diese Vignetten handeln vom Garnisonsalltag, von den grotesken Seiten des Wehrdienstes, den Abenteuern der Rekruten oder sonstigen Anekdoten.
Geschichte
Teller mit Illustrationen historischer Begebenheiten waren im 19. Jahrhundert die Verkaufsschlager beim Steingutgeschirr, da sie bekannte zeitgenössische und antike Themen aufgriffen. Diese Teller wurden mit dem Ziel der Bildung hergestellt, um Geschichte zu vermitteln und zum kenntnisreichen Austausch oder zum Erzählen von Anekdoten bei Tisch anzuregen. Wenngleich dabei die Geschichte ganz Europas thematisiert wurde, so waren doch die Teller über Napoleon I. am begehrtesten. Geschildert wurden hier die Feldzüge und Kriege des Kaisers sowie Episoden aus seinem Leben. Auf den Tellerfahnen fanden zudem Napoleons Insignien wie das lorbeerbekränzte „N“ und der Kaiseradler Platz. Bei Villeroy & Boch Septfontaines begann man um 1837 mit der Produktion dieser Art von Dekor, die sowohl für den luxemburgischen als auch für den ausländischen Markt bestimmt war. Die Bevölkerung sammelte diese Teller und offenbarte damit eine gewisse Nostalgie für die Zeit des Ersten Kaiserreichs, in der Luxemburg zu Frankreich gehörte.
Religion
Nachdem der Katholizismus durch die Französische Revolution und das Erste Kaiserreich an Bedeutung eingebüßt hatte, erfuhr er im 19. Jahrhundert dank der neu erwachenden Religiosität und die Rückbesinnung auf den traditionellen Glauben einen Wiederaufschwung. Die Vignetten der Teller handeln hier vom Leben Christi, von der Jungfrau Maria (das 19. Jahrhundert ist das Marienjahrhundert schlechthin), vom Alten oder Neuen Testament, von religiösen Festen und Bräuchen, den Lastern und Tugenden oder vom Leben der Heiligen. Diese Teller sollten die Menschen zum Nachdenken über Moral und rechtschaffenes Verhalten in der Gesellschaft anregen sowie die Frömmigkeit und die Begeisterung für die wiederentdeckte Religion fördern.
Sprichwörter, Fabeln und andere Geschichten
Diese Thematik war im 19. Jahrhundert wegen der unterhaltsamen Illustrationen und der leichten, verspielten Sujets sehr beliebt – und ist es bis heute. Alles wird mit Humor behandelt und die Teller haben eindeutig eine belehrende oder gar moralisierende Funktion. Die Vignetten regen ihre Betrachter zum Nachdenken und zur Diskussion an. Ihren Stoff schöpfen die Steingutfabriken aus volkstümlichen Redensarten und populaeren Sprichwörtern oder aus Fabeln, Geschichten und Märchen, wobei die Quellen hauptsächlich französisch, bei Villeroy & Boch Septfontaines manchmal auch deutschsprachig sind.
Zeitgeschehen und Politik
Die sprechenden Teller stellen eine Chronik des damaligen Zeitgeschehens dar. Die Bevölkerung wird durch die Illustrationen über wichtige Ereignisse, Entdeckungen und wissenschaftliche Fortschritte, über Mode oder über Politik informiert. In letztgenannter Kategorie sind es vor allem Staatsoberhäupter, deren Konterfeis auf den Teller zu sehen sind, damit ihre Porträts in ganz Europa bekannt werden.
Gesellschaft, Alltagsleben und Genrebilder
Niemand entging der Darstellung auf sprechenden Tellern: Alle Gesellschaftsschichten, Altersgruppen, Berufe und Menschentypen waren vertreten. Am beliebtesten waren romantische Szenen, vertraute Begegnungen junger Bürgerlicher, das Landleben oder spielende Kinder aus allen gesellschaftlichen Schichten.
Landschaften, Reisen und Geografie
Die industrielle Revolution brachte immer schnellere und bessere Transportmittel hervor, welche die Erkundung der Welt erleichterten. Die Bevölkerung wurde vom Reisefieber gepackt. Die Teller zeigen Sehenswürdigkeiten, Ausflugsziele, Städte und Landschaften verschiedener Länder. Viele der Vignetten sind dem Zeitgeist entsprechend romantisiert, stellen verfallene Bauwerke inmitten üppiger Natur dar. Einige dieser Serien können als Ausdruck von Patriotismus und Heimatverbundenheit betrachtet werden. Sie dienten aber zugleich auch als Souvenirs für Reisende, machten Werbung für das Land als touristisches Ziel, so auch einige Produktionen von Villeroy & Boch Septfontaines.
Die industrielle Revolution und ihre technischen Neuerungen bildeten für die Steingutmanufakturen den Beginn einer neuen Ära, indem sie die Mechanisierung der Keramikdekoration möglich machten. Dank der Zeitersparnis mit dem vereinfachten Dekorationsverfahren konnten die Fabrikanten nun eine Vielzahl von Dekoren für jeden Geschmack und alle Gesellschaftsschichten in großen Mengen produzieren. Die sprechenden Teller sind dadurch sowohl in historischer als auch in künstlerischer Hinsicht wahre Zeitzeugen, die es uns heute ermöglichen, die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Die Vielfalt der Motive beweist außerdem, dass diese Objekte nicht ausschließlich dem inländischen Markt vorbehalten, sondern auch für den Export bestimmt waren. Mit Bildmotiven und ihren Legenden wurden nicht nur Teller verziert. Auch Kaffeekannen, Tassen, Bartschüsseln usw. erhielten wurden auf diese Weise geschmückt. Trotz dieser Vielfalt gerieten die sprechenden Dekore nach dem Ersten Weltkrieg allmählich aus der Mode.
Text | CC BY-NC | Noémie Montignie, MNAHA
Weiterführende Literatur
Bouyssy, Maïté et Chaline, Jean-Pierre (dir.), Un média de faïence. L'assiette historiée imprimée, Paris, Publications de la Sorbonne, 2012. (Bibliothekskatalog)
Minovez, Jean-Michel (dir.), Faïence fine et porcelaine : Les hommes, les objets, les lieux, les techniques, Toulouse, Presses universitaires du Midi, 2003. (voller Text)
Thomas, Thérèse, Rôle des Boch dans la céramique des 18e et 19e siècles. La création de l'entreprise Villeroy & Boch, Mettlach, 1971. (Bibliothekskatalog)
Verboomen, Monique et Van Schoute, Roger, Dictionnaire des motifs de la faïence fine imprimée en Belgique, Bruxelles, Ed. Racine, 2006. (Bibliothekskatalog)
Veröffentlichungsdatum: 22. Februar 2021
Letzte Aktualisierung: 1. Juli 2024