Meinen Grund zu malen sehe ich darin, daß meine Malerei mein Verlangen nach Harmonie und Einheit stillt. Sie hilft, das
eigene Ich allmählich wiederaufzubauen und die Welt der Gnade zurückzufinden, die verlorenging. Aber eine solche Malerei
ist weit vom Publikum entfernt, weil dieses in einer materialisierten Welt lebt und nichts zurückzugewinnen begehrt.
So sprach, um 1955, der Maler Manessier. Der Dichter Camille Bourniquel, sein Freund, konnte zur gleichen Zeit behaupten:
„Manessier hat eine außergewöhnliche Stellung in der Generation der etwa vierzigjährigen Maler, denn es ist selten, daß
ein Künstler im ersten Anlauf auf den Platz kommt, wo er schon mit Erstlingswerken seine ureigene Vision und seinen Anspruch
zwingend erkennen läßt!“ Erstes Paradoxon bei Manessier. Denn das Werk des christlichen Malers, der er ist, hat die
Aufmerksamkeit und die Bewunderung einer entchristlichten Welt abgezwungen. Ein zweites Paradoxon kommt hinzu. Dieses in
großem Ausmaß internationale Publikum hört allzu gern auf diejenigen, die sich laut gebärden, akzeptiert hier aber eine ganz aus
Innerlichkeit bestehende Malerei, die in der alten französischen Zurückhaltung wurzelt, der guten Eigenschaft der Glasbildner
von Chartres und der ganzen Reihe bis zu Braque und Jacques Villon über Fouquet, Georges de la Tour, Chardin, Corot,
Cezanne, Seurat — alles Vorfahren und geistige Väter unseres Malers.
Ohne es zu wollen, fordert dieser Erfolg geradezu heraus. Zwei Ursachen möchte ich erkennen: einmal, daß die heutige
Menschheit durch diese Kunst in ihrer geheimen Sehnsucht angesprochen wird und sich daran erinnern läßt, daß der Mensch
eine Seele hat und das Universum auch; zum anderen, daß Manessier durch sein eigenes Beispiel die Menschen überzeugt,
daß man die Seele nur auf dem Wege der Liebe erreicht. In der Malerei von Manessier ist diese doppelte Erfahrung so stark
ausgedrückt, daß sie unseren Materialismus heftig bekämpft und den Verlust der Paradiese uns ebenso beklagen läßt wie sie
uns die Hoffnung gibt, sie wiederzugewinnen.
Anders als bei abstrakten Malern wie Hartung oder Soulages wird der Schöpfungsakt bei Manessier, auch bei Bazaine, Singier
und anderen nicht-figurativen Malern, stets aus einer sinnlichen Erfahrung geboren: visueller, auditiver oder anderer Natur.
Er selbst bezeugt es gegenüber dem Kritiker Jean Clay: „Ich muß mich an die Wirklichkeit anlehnen, im Lichte die Gesänge,
Bäume, Steine lesen, diese Freude, diese Liebe, die mir innewohnen.‘“ Aber das nur, um die Erscheinungsformen zu
transzendieren, die in seinen Werken meist nicht mehr zu erkennen sind, mag Manessier nun vom Einzelfall zum Allgemeinen
steigen oder durch den Aspekt hindurch die Essenz erblicken. Die Bildtitel bereits weisen darauf hin, gleich ob sie sich auf
ein universelles Phänomen beziehen, etwa Nordischer Frühling, Ausgelassenheit des Frühlings oder wie Der Saft auf verborgene
Wirklichkeiten, aus denen die tiefliegenden Kräfte, ja das Leben der Welt selbst bestehen. Ist das Platons Ideenlehre? Nein,
viel eher eine Seelenlehre, insofern für ihn die Idee nicht nur wesenhaft religiös, sondern auch eine Enthüllung ist, eine
Teilapokalypse eines der Aspekte Gottes, auf den sie sich stets bezieht. Wiederum sind Bildtitel bedeutungsträchtig: Magnificat
der Ernte, Alleluja der Felder. Erklärungen wie die folgende sprechen genauer: „Wenn ich erst einmal Ostern als spirituellen
Jubel und gleichzeitig als pantheistische Renaissance ausdrücken kann, dann habe ich gewonnenes Spiel. Wenn er in seiner
Malerei Themen der Natur und der Liturgie einander nahebringt, indem diese jener die Dimensionen, den Sinn, die Wahrheit
und das Sein mitteilt, dann darum, weil er jenseits der sichtbaren Erscheinungen der Natur in ihrem Wesentlichen Gott ahnt
und ihn also ausdrückt — Gott, dessen Wesenheiten und Erscheinungen nur Reflexe von mehr oder weniger entfernten
Graden sind. So hat Manessier es nicht nótig — wenn man es nun wirklich sagen muf —, heilige Antlitze oder Betrachtungen
über die Frohbotschaft, im besonderen über die Passion zu malen. Wenn er Religióses wirkt, wenn er religiós ist in seiner
Dornenkrone, seiner Finsternis, seinen Drei Nágeln, dann wirkt er es nicht weniger und ist er es ebensosehr in seinem
Zeichen der Nacht oder seiner Kleinen vegetalen Opferung. Nirgends und keineswegs ist er Pantheist, aber er entdeckt die
Chiffre Gottes oder, genauer gesagt, die Chiffre von Seinem Wort in den Pflanzen und den Steinen, im Tage wie in der Nacht,
im Wassertropfen wie im Stern, in den Geráuschen und im Schweigen, in allem, womit sich das Universum an unsere Sinne
und an unsere Einbildungskraft wendet. Alles in dieser Welt ist für ihn Seele, weil hier alles Teilhabe am Wesen und am
Leben Gottes ist.
Die unmittelbarsten Teilnehmer dieses Wesens und dieses Lebens sind die Menschen, und unter ihnen diese, die das Privileg
erhielten, Propheten zu sein, d. h. — die Etymologie lehrt es uns — Geschópfe, die für ihren Schópfer sprechen, an dessen
Stelle und Platz, in seinem Namen. Nicht nur der Dichter, der ,,vates", kann, wie Platon es will, der £y'Uzoc xai XATEYOMEYOS
sein. Der Künstler ist es auch, und ganz besonders ist es der Maler. Seine Pinsel verdeutlichen, übersetzen, erläutern und
verkünden die göttliche Weltbotschaft, lenken diese auf etwas Bestimmtes hin und vervielfältigen sie, weil die Pinsel selbst
schöpferisch sind. Die Schöpfung durch die Pinsel ist ein Spiegel der Schöpfung, und sie hat Teil an deren Dynamismus.
So ist das Werk des Künstlers auf zweifache Weise Vehikel der göttlichen Seele, und im Falle Manessier gar dreifach: seine
Schöpfung übersetzt zudem seinen Willen, sich zu einem schlichten, demütigen Echo zu machen, das nichts ist als ein Echo,
ein gelehriges, ein vollkommenes Echo für die geistigen Wirklichkeiten, die zugleich geahnt, angenommen und gelebt werden:
„Ich lauere, liege im Anschlag wie der Jáger", oder: ,,Jedesmal, wenn ich mich in ein inneres Suchen vertiefe, begegne ich
dieser Nacht, die der heilige Johannes vom Kreuz in seinem Gedicht ,Und es ist in der Nacht! besungen hat." So wird denn
auch die bedeutende Rolle verständlich, die in seinen Gemálden das Helldunkel hat. Wie für die Glasmaler des Mittelalters ist
für Manessier das Licht das am wenigsten inadáquate Zeichen des góttlichen Wesens und der am wenigsten unsichere Weg,
auf dem man durch Dunkelheiten und Klarheiten hindurch am sichersten den am wenigsten unvollkommenen Zugang zum
Góttlichen findet. Geschenkte und aufgeopferte Malerei: so trágt die Malerei von Manessier das Siegel der Geistigkeit ihres