Bildnis Prof. Corbetta, 1972 Öl auf Lwd., 215X 185 cm (Ausschnitt) Mit den neun lebensgrossen Figuren hat Varlin die Summe seiner Porträtkunst gezogen. Alle Tempe- ramente, alle nur denkbaren Seelenlagen sind präsent und mit höchster Prägnanz dargestellt — nicht nur, was das Mienenspiel, sondern auch, was die Sprache der Hände, der Körperformen und -haltungen anbe- langt. Die Komposition der Gruppe ist simpel und kunstvoll in einem. Die neun Salutistenfrauen und -männer sind friesartig aneinandergereiht, zugleich aber wird durch die Verteilung der Massen, den Wech- sel von Hell und Dunkel eine Dynamik in das Bild ge- tragen, die bei jeder neuen Begegnung überrascht. Die Wahlverwandtschaft, die zwischen den Tem- peramenten und Begabungen Varlins und Friedrich Dürrenmatts besteht, hat dadurch ihre äussere Bestä- tigung gefunden, dass Dürrenmatt die «Heilsarmee» erwarb und in seinem Arbeitszimmer aufstellte. Das dritte, figurenreichste und grösstflächige Gruppenbild heisst «Die Leute meines Dorfes». Es wurde im Winter 1976/77 geschaffen und ist, zusam- men mit dem Porträt Ueli Pragers, das letzte Werk des Malers. Es hat nach seinem eigenen Zeugnis als ab- geschlossene Arbeit zu gelten. Dargestellt sind dreizehn Bewohner des Dorfes Bondo im Bergell; dass man in Wirklichkeit deren vierzehn zählt, rührt von der zweimaligen Anwesenheit des bärtigen Bergführers her. Ausser Franca Varlin und der Kinderfrau An- tonia lernen wir auf dem Bild den Arzt, die Kranken- schwester, den Lehrer, den Förster und den «doppel- ten» Bergführer kennen; sodann eine aus dem Dorf stammende und dort ihre Ferien verbringende Dame, einen Bauern und eine Nachbarin, eine Putzfrau, eine seit langem in Bondo arbeitende Italienerin und das Kind Nadia. Die Figuren eines kleinen Welttheaters also, die sich allerdings — im Gegensatz zu den Salu- tisten des Expo-Bildes — in dieser Gruppierung nie zusammenfanden, sondern dem Maler einzeln Modell standen. Wenn sich Varlin dahin äusserte, dass er die «Völlerei» später «anders, viel frecher» komponiert hätte, so hat er dieses Vorhaben mit «Die Leute mei- nes Dorfes» in die Tat umgesetzt. Verglichen mit der Dynamik dieses letzten und grössten Gruppenbildes wirken «Völlerei» und «Heilsarmee» statisch. Denn hier ist die Charakterisierung einer Persönlichkeit nicht nur Sache der Physiognomie und allenfalls der Körperhal- tung — hier wird Wesentliches durch die Bewegung der Figuren ausgedrückt. Ein ungebärdiger elan vital beherrscht die Szene, eine Lebenskraft und -lust, die den Beschauer zuerst verblüfft und verwirrt und schliesslich mitreisst. Dabei handelt es sich um die Arbeit eines schon vom Tode Gezeichneten, der hier zum letztenmal den Pinsel führt. DAS SPATWERK Der Beginn des Spátwerks, dessen Krone «Die Leute meines Dorfes» sind, ist um das Jahr 1970 an- zusetzen. Es umfasst zur Hauptsache Porträts (das Selbstbildnis, die Schwester, die Tochter Patrizia, die Freunde Dürrenmatt, Corbetta, Scheidegger, Testori, Staehelin, Loetscher, Maurizio, Alain usf.), die Darstel- lung von Gegenständen im Raum (Bett, Ledersessel, Nachttisch, Koffer), die Hunde Zita und Lapponio und drei Landschaften, darunter den grossartigen «Winter in Bondo». Das Wort Spátwerk sagt an sich gar nichts aus. Es kann für das harmonische Ausklingen einer langen, zielstrebig gefórderten Produktion stehen; es kann den unaufhaltsamen Verfall und das Versiegen der Gestal- tungskraft bedeuten; oder aber ein Vorstossen in Be- reiche, vor denen der Künstler auf der Hóhe des Le- bens zurückschreckte, und die er sich nun mit dem Aufgebot der letzten Kraft zu eigen macht. Die Kunstgeschichte kennt Beispiele für den zu- letzt genannten Fall. So etwa die beiden Gruppenbil- der, die Frans Hals 1664, zwei Jahre vor seinem Tode, von den Regenten und den Regentinnen des Haar- lemer Altmánnerhauses gemalt hat. Jedesmal, wenn ich vor diesen erschütternden Werken stehe, will mir scheinen, das ganze frühere Oeuvre des Malers wiege, verglichen mit ihnen, leicht. So urgewaltig sprechen aus diesen Greisengesichtern menschliche Schicksale, menschliche Hinfálligkeit, Grósse und Tragik des Alters. Nicht anders ergeht es mir mit Varlins Spat- werk. Es zeigt die Stunde der Wahrheit an — nicht nur fiir seine Malerei, sondern auch fiir seine Modelle, ganz gleich, ob es sich nun um einen Menschen, ein Tier oder einen toten Gegenstand handle. Denn wenn Varlin in den vierziger Jahren und auch später immer wieder die Dinge seiner Hauslich- keit malte — Ofen, Schrank, Bett, Regenschirm, Fla- schen u. a. — so strahlten sie stets so etwas wie Nest- wärme aus, eine ironisch verbrämte Behaglichkeit, die sogar noch dem Chaos der Zürcher Atelierbilder der frühen sechziger Jahre eigen ist. Ganz anders die Ge- genstandsdarstellungen der Spätzeit. Jetzt wirkt ein abgewetzter, zerschlissener Ledersessel, der in einem nicht weiter bestimmbaren Raum wie in einem Nie-