sich an den ersten Besten, der gerade Musse zum Posieren hatte. In anderen Fällen umkreiste er sein Opfer mit Geduld und Späherblick während Jahren, bis er sich endlich zur Exekution entschloss. Immer aber war Sympathie im Spiele, und man kann sagen, dass mit dem Grad der Sympathie auch die Wahr- scheinlichkeit des Gelingens wuchs. Darum sind auch die Bildnisse seiner Mutter, seiner Schwester Erna und seiner Frau Franca Höhepunkte seiner Bildnis- kunst. Varlin wehrte sich gegen den Vorwurf, er kari- kiere seine Modelle. Nun, darüber, wo die Grenze liege zwischen einer die physiognomischen Merkmale herausstellen- den Porträtkunst und der Karikatur, kann man streiten. Wesentlicher scheint mir die Feststellung zu sein, dass es Varlin gelang, das Einverständnis der Modelle zu seiner Darstellungsweise zu erlangen. Mehr noch: Es kristallisierte sich zwischen ihm und ihnen eine Art Komplizität heraus, vergleichbar jener, die zwischen Goya und der Familie König Karls IV. von Spanien be- stand und jenes ungeheuerliche Gruppenbild im Prado zeitigte, von dem man nicht begreift, dass es die hochgeborenen Auftraggeber akzeptiert hatten. Es ist dann auch gewiss kein Zufall, dass Varlins einzige be- kanntgewordene Kopie nach einem alten Meister aus- gerechnet diesem Werk gilt. Von Varlin ist der Ausspruch überliefert, ein Portrát stimme nach fünf Minuten oder nie. Nach mei- ner eigenen Erfahrung kann ich dieses Apercu nur be- státigen. Mein Portrát von 1954 war nach einer Viertel- oder halben Stunde im Prinzip fertig. Dann allerdings kamen Varlin Zweifel. Er drehte die Leinwand um und machte aus dem Kniestück einen Sitzenden. Der taugte gar nichts, und die Arbeit wurde abgebrochen. Bei der zweiten Sitzung kam ein Brustbild an die Reihe. Dar- auf sah ich aus wie ein Detektiv der Kantonspolizei. Wir schoben eine Pause von mehreren Tagen ein, und Varlin machte einen vierten Versuch. Wieder ohne Er- folg. Schliesslich nahm er den ersten Entwurf wieder vor, änderte eine winzige Stelle am Auge und erklärte das Bild für fertig und gut. Erst nachdem er die Lebensmitte überschritten hatte, begann Varlin sich mit dem Portrát zu befassen. Umso erstaunlicher ist es, dass er dann auf Anhieb eine ganze Reihe seiner glanzvollsten Bildnisse schuf: die Schwester 1948, der Bildhauer Arnold d'Altri 1951, die Mutter 1952, der Maler Leo Leuppi 1953, Anna In- dermaur 1958. Das Jahrzehnt von 1960 bis 1970 ist dann ge- kennzeichnet durch die Portráts von Künstlern, Schrift- stellern und Wissenschaftern — Friedrich Dürrenmatt, Hugo Loetscher, die Brüder Haussmann, der Schau- spieler Ernst Schróder, die Mediziner Prof. Corbetta und Prof. Franconi usf. — und durch das magistrale Bildnis der Kronenhalle-Wirtin Hulda Zumsteg. Aber auch Portráts Unberühmter und Unbekann- ter entstanden in diesem siebten Jahrzehnt. Sie haben ihre Vorläufer in Bildern wie «Englischer Gardesoldat» und «Teetrinkender Engländer» von 1955, «Zögling einer italienischen Marineschule» und «Welsh Guards- man» von 1957. Während Varlins Aufenthalt in Neapel 1961 entstanden dann «Arbeitsloser Neapolitaner» und «Neapolitanerin», nach seiner Rückkehr nach Zürich malte er im darauffolgenden Jahr «Ella enceinte» und das kühn konzipierte Doppelbildnis «Ella und Juan». Unser Jahrhundert ist arm an grossen Porträ- tisten. Ohne sich der Übertreibung schuldig zu ma- chen, kann man behaupten, dass es in seinem mittle- ren Drittel nur deren zwei hervorgebracht hat: Im Bereich der Plastik Marino Marini und in jenem der Malerei Varlin. Im übrigen wurde das Feld den Photo- graphen überlassen. Und da ist es bezeichnend, dass sich zwischen dem bedeutendsten Porträtphotogra- phen der Zeit, Henri Cartier-Bresson, und Varlin schon bei ihrer ersten Begegnung im Jahre 1966 eine auf gegenseitige Bewunderung gegründete Freundschaft anbahnte. DIE GRUPPENBILDER Gemeint sind die beiden Monumentalbilder, die Varlin für die schweizerische Landesausstellung 1964 in Lausanne schuf, und das im Herbst 1975 begon- nene, 1976 vollendete Spätwerk «Die Leute meines Dorfes». Es gibt Maler, deren Oeuvre keine ausgespro- chenen, allgemeinen Zuspruchs sich erfreuenden Höhe- punkte aufweist, und andere, deren Namensnennung unwillkürlich ein ganz bestimmtes Werk vor das gei- stige Auge ruft. Bei Velazquez «Die Übergabe von Breda», bei Rembrandt «Die Nachtwache», bei Picasso «Guernica» und so fort. Im Falle Varlins spielen die beiden Monumental- bilder «Völlerei» und «Heilsarmee» diese Rolle. Sie versinnbildlichen die irdischen und die geistigen Freu- den der Menschheit. Das Bild, das man sich von Varlins Persönlich- keit gemacht hat und an dessen Zustandekommen er selber massgebend beteiligt war, könnte vermuten las- sen, dass ihm die pantagruelische «Völlerei» mehr ent- sprochen habe und besser gelungen sei, als die dem Jenseitigen zugewandte «Heilsarmee». Das Gegenteil trifft zu. Das auf der «Völlerei» dargestellte Schwelgen im Fleischlichen lag ihm im Grunde gar nicht; er war weder ein Fresser noch ein Schlemmer. Dem Bild haf- tet darum etwas Forciertes, nicht-ganz-Überzeugendes an. Auch formal hatte der Autor daran auszusetzen. Von Peter Killer auf die «Völlerei» angesprochen, äus- serte Varlin sechs Jahre nach der Entstehung des Werkes: «Die Komposition gefällt mir nicht mehr. Heute würde ich das anders machen, viel frecher.» Das Heilsarmeebild verdient das Prädikat Haupt- werk in mehr als einem Sinn. Es zeigt Varlins Vermögen, psychologischen Scharfblick und physiognomische Unbestechlichkeit mit Sympathie zu verbinden, eindeutiger als je. Das innige Einverständnis, das hier zwischen dem Maler und seinen Modellen hergestellt wurde, fand dann auch in den schlichten Worten der Heilsarmee-Majorin Gössele seinen Ausdruck, wenn sie, die selber auf dem Bild in Erscheinung tritt, sagte: «Ich habe gehört, dass sich viele Pfarrherren über dieses Bild beschwert hätten. Varlin mache sich über die Heilsarmee lustig. Er macht sich nicht lustig über uns. Er mag uns qut.»