Hauptsache unter Menschen jenseits der Lebensmitte suchte, so hielt er es mit Gebäuden und Strassen- zügen. Vieles von dem, was er der Darstellung für würdig erachtete, ist denn auch inzwischen der Spitz- hacke.zum Opfer gefallen. Im. Falle Varlins rechtfertigt es sich durchaus, anstelle von Gebäudeansichten das Wort Gebäude- porträts zu gebrauchen. Und wie es in seinem Porträt- Oeuvre sowohl Einzel- wie Gruppenbildnisse gibt, so muss man auch bei seinen Stadtlandschaften zwischen der Darstellung von Haus-Individualitäten und derjeni- gen von Strassenzügen und Quartieren unterscheiden. Die Tendenz zur letzteren Gattung nimmt bei Varlin mit fortschreitender künstlerischer und mensch- licher Reife entschieden zu. Schon von seinen Aufent- halten in England und Schottland 1955 und 1957 brachte er vor allem Strassenbilder nach Hause; die Monate, die er 1956 in Venedig und auf der terra firma verbrachte, zeitigten hauptsächlich Veduten von Kanä- len und Gassen. Das gleiche gilt dann von der spani- schen Reise im Jahre 1959. Ihre eindrücklichsten Er- trägnisse waren eine das bitterste Elend augenfällig machende Dorfstrasse in Andalusien, die Überschwem- mung in einem Quartier Malagas und jene Gesamt- ansicht einer Totenstadt mit dem Titel «Der Friedhof von Almunecar». Von seinem New Yorker Aufenthalt 1969 zeugen dann überhaupt nur noch Stadtpanora- men grössten Massstabs. Man kann in dieser Entwicklung eine Abwen- dung vom Einzelschicksal und eine wachsende Anteil- nahme am Kollektiv erblicken — ein Trend, der sich übrigens gleichzeitig auch im Bereich der Porträtmale- rei bemerkbar macht. INNENRAUME Es gibt wenige Maler, die dem Innenraum ein so leidenschaftliches Interesse widmeten wie gerade Varlin. Es war im Keime schon früh vorhanden, stei- gerte sich mit den Jahren und spielt im Spátwerk eine beherrschende Rolle. Ihm verdanken wir Bilder, die zu den verblüffendsten, eindrücklichsten des Malers zählen. Es handelt sich dabei vorzüglich um die Dar- stellung von Räumen grossen Ausmasses, in denen sich viele Menschen und Schicksale kreuzen: Warte- säle, Spitalkorridore und solche von Amtshäusern, Hal- len und Speisesäle grosser Hotels, in der Spätzeit die Räume seines eigenen Hauses in Bondo. Zu den ersten Versuchen auf diesem Gebiet zählen zwei Bilder aus den Jahren 1943 und 1944. Das erstere heisst «Meine Dienstkameraden» und zeigt das Innere eines Kantonnements während des Aktivdien- stes; das andere trägt den Titel «Mutter in der Küche». Bei beiden spielt die menschliche Figur noch eine grosse Rolle, doch spürt man bereits die Faszination, die der Raum auf den Maler ausübt. Wie sehr diese mit der Zeit überhand nimmt, kann man von zwei Werken ablesen, die Varlin mit einem Zeitunterschied von mehr als zwanzig Jahren von zwei Wartsälen in Montreux gemalt hat. Der «Wartsaal in Montreux I» ist 1946 entstan- den; auf ihm zählt man noch neun Reisende, die stehend oder auf Bänken sitzend die Zeit vertrödeln. «Wartsaal in Montreux ll» von 1968 zeigt dann einen ganz ähnlichen, langgestreckten Raum völlig leer mit einem einzigen, winzigen Figürchen im hintersten Hin- tergrund. Höhepunkte von Varlins Raumdarstellungen sind die 1952 entstandenen Speisesäle eines Bäderhotels in Rheinfelden mit Blick auf den Strom und das kapi- tale Bild «Theatersaal im Palace Hötel, Montreux» von 1968. Es sind Denkmäler einer Gastlichkeitsgesinnung, die feudalem Prunk zugetan war, sich längst überlebt hat und auf Varlins Innenräumen zum letztenmal me- lancholisch aufleuchtet. In wie hohem Masse die Raumdarstellung die Funktionen des Porträts zu übernehmen imstande ist, beweist das Bild «So lebt die Schweiz» von 1969. Der Besitzer dieses eleganten Interieurs mit Ausblick auf Schloss Chillon ist zwar auf dem Bilde präsent und sein Porträt ist mit Sorgfalt ausgeführt. Alles aber, was wir über ihn erfahren — und was für ungezählte Schweizer zutrifft! — wird durch ein paar Einrichtungs- gegenstände, vor allem aber durch die pompöse Leere des Raumes ausgesagt. DAS PORTRÄT Ein Wort zuvor über das Autoporträt. Varlin hat — wenn man von dem — hoffentlich scherzhaft ge- meinten — Akt auf der Einladung zur Überreichung des Zürcher Kunstpreises und den Selbstdarstellungen auf einem Plakat und seiner Heiratsanzeige absieht — vor seinem fünfundsiebzigsten Jahr kein Selbstbildnis gemalt. Das ist ein seltener Fall bei einem Porträt- maler par excellence und umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, in wie hohem Masse er vom Modell ab- hängig war. Wie nahe hätte es gelegen, dass er in Er- mangelung eines anderen mit sich selbst vorlieb ge- nommen hätte! Es scheint aber, dass er eine tiefein- gewurzelte Scheu vor jeder Selbstpreisgabe empfand, die er erst in extremis zu überwinden vermochte. Das Porträt hat zur Popularität Varlins mehr bei- getragen, als jede andere Bildgattung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er sich bei der Auswahl seiner Modelle vorzüglich an jene Schicht hielt, die man als Prominenz bezeichnet: Maler, Bildhauer und Schrift- steller, der Zürcher Stadtpräsident, namhafte Rechts- anwálte und Arzte, Manager, Innenarchitekten, Schau- spieler, aber auch Koryphden der Boheme und stadt- bekannte Aussenseiter der Gesellschaft. Da er mit seinen Modellen nicht zimperlich umsprang, ihre kor- perlichen Eigenheiten und Mängel vielmehr unterstrich und übertrieb, so mischte sich in das genuine Inter- esse, das das Publikum dem Porträt als solchem ent- gegenbringt, immer auch etwas Schadenfreude. Über die Art und Weise, mit der Varlin seine Modelle selektionierte, kann mit Sicherheit nur eines gesagt werden: Er nahm keine Porträtaufträge ent- gegen. Wenn er sich — was höchst selten vorkam — einmal doch zu einem derartigen Unternehmen ver- leiten liess, endete dieses mit einem Fiasko. Im übrigen verhielt er sich auch auf diesem Ge- biet unberechenbar, sprunghaft, launisch wie stets. Wenn ihn die Lust zum Porträtieren ankam, hielt er