Varlin malt das Zuchthaus von Lausanne, ein burgähnliches, düsteres Gebäude, davor eine breite, von verkrüppelten Platanen flankierte Allee. Und nun spielt sich vor den Augen des Malers folgender Vor- gang ab: Ein Mann soll von einem Polizisten in die Strafanstalt eingeliefert werden. Kurz bevor die beiden das Eisentor erreichen, tritt ihnen eine junge Frau in den Weg. Sie möchte sich von dem Häftling verab- schieden. Der Polizist hat ein Einsehen, tritt einige Schritte beiseite, wendet sich ab. Die Frau umhalst den Mann und steckt ihm dabei einen Revolver zu. Der Mann legt auf den Ahnungslosen an, drückt ab. Der Polizist verwirft die Arme und stürzt rücklings tot auf den Asphalt. Der Mörder und die Frau flüchten. Und Varlin? Varlin malt weiter. Malt in die noch nasse, graue Fläche der Zuchthausallee den Körper des leblos und platt auf dem Boden liegenden Poli- zisten, malt mit zwei, drei Pinselstrichen das fliehende Paar im Hintergrund. Varlin geht bei Tagesgrauen durch eine enge, ärmliche Gasse Venedigs. Unter einem Tuch liegt ein toter Mann, den kurz vorher der Schlag getroffen hatte. Ein Priester, Polizisten, Passanten bemühen sich um den Unglücklichen. Varlin notiert die Szene mit ein paär Bleistiftstrichen in sein Notizbuch und geht weiter. Der Vorfall macht ihm tiefen Eindruck. Er möchte — er muss ihn malen. Aber er kann nicht auswendig malen. Er muss das Licht dieser bestimmten Stunde, die Farbe des Pflasters, der Mauern vor sich haben, muss genau sehen, wie stark ein weisses Hemd in die- sem Licht leuchtet, von diesen Farben absticht. So kehrt er vierundzwanzig Stunden später in die selbe Gasse zurück und malt «vor der Natur» die Szene mit dem Toten, dem Priester, den Gendarmen, den Gaf- fern. Vorübergehende, die einen Blick auf die Lein- wand werfen, sind entsetzt. Sie glauben, der Maler sehe Gespenster. Man muss sich diese nach bestem Vermögen transskribierten Erzählungen zusammendenken mit Var- lins Gestik und Mimik, um ihre Wirkung auf den Zu- hörer, den selber wortschöpferischen Zuhörer vor allem, zu ermessen. Aber nicht nur die Anekdoten, auch die Werke Varlins sind nach dem Herzen der Literaten. Zwar hat er keine Genre-, also nacherzählbare Darstellungen gemalt; trotzdem sind seine Bilder für jeden, der schreibt, eine Herausforderung. Seine Stadtlandschaf- ten, Häuserporträts und Innenräume ergäben ideale Schauplätze für die zeitgenössische Novellistik, und seine Bildnisse scheinen daraufhin angelegt zu sein, einem Romanschreiber oder Dramatiker als Rohstoff zu dienen. Die Sympathie, die Dichter und Schriftsteller der Person und dem Werk Varlins bezeugen, ist darum nur natürlich; sie hat indessen den Nachteil, dass in der bis dahin vorliegenden Varlin-Literatur fast ausschliess- lich von seiner äusseren Erscheinung, seinen Clowne- rieen, seinen Witzen und Pointen und nur ganz bei- läufig von seiner Malerei die Rede ist. An diesem Missverhältnis trägt Varlin selber nicht wenig Schuld. Selbst einem professionellen Kri- tiker gegenüber wich er jedem Gespräch über sein Werk beharrlich aus, und wenn von klassischer oder Zeitkunst die Rede war, verfiel er regelmässig in jenes Blödeln, das ein Gran Wahrheit unter einem Berg von Unsinn begrub. Heisst das, dass er sich selber und seine Kunst im Grunde nicht ernstnahm? Im Gegenteil. Er nahm beides nur zu ernst. So ernst, dass es ihm für das übliche Kunstgespräch zu schade war. DER PRIMA-VISTA-MALER Varlin kannte seinen Wert genau, und wenn er sich an den Mitstrebenden gemessen hätte, wäre kein Grund zu Zweifel und Depression gewesen. Er mass sich aber mit Massstäben, die jede Selbstzufriedenheit ausschlossen. Daher die Niedergeschlagenheiten, die die Kehrseite seines Humors waren und ihn heimsuch- ten bis ans Ende. Was ihm die Arbeit schwierig machte, war das, was man seine Prima-Vista-Begabung nennen kann: Das Gelingen oder Misslingen eines Bildes entschied sich bei ihm in der ersten Stunde. Arbeitete er lange daran oder nahm er es nach einer Pause wieder vor, so war die Gefahr gross, dass er es verdarb und schliesslich zerstórte. Man kann sich denken, dass dieses sich-auf- Anhieb-Bewáhren-müssen eine ungeheure, eine fast unertrágliche geistige Anstrengung bedeutete. Sie nahm mit den Jahren nicht ab, sondern zu. Und wenn der Maler sich vor ihr fürchtete, so liebte er sie auch. Mit jedem neuen Bild spannte er den Bogen straffer. Bis zum Zerspringen. Der raschen Erfassung und Formgebung des Bildgegenstandes entspricht eine Malweise, die die Farbe mit langen, breiten Pinselzügen flüssig, fláchig auftrágt und die Leinwand stellenweise unbedeckt lásst. Der skizzenhafte Eindruck, den sie vermittelt, verführt zur Annahme, dass sie schnellhingeworfen, flüchtig, kunstlos sei. Nichts wäre falscher. Wer das Glück hat, ein Werk Varlins zu besitzen, weiss, dass gerade die Beschäftigung mit seiner Technik uner- schöpfliches Schauvergnügen verschafft. Sein Farbauf- trag, die Sicherheit und Kühnheit seines Pinselstrichs, die Zartheit seiner Lasuren, die quirlenden und die flockig aufgesetzten Partien weisen ihn als einen Ma- ler aus, der alle Möglichkeiten seines Metiers souverän beherrscht. Den Feinheiten der Malweise antworten diejeni- gen der Farbwahl. Man betrachte daraufhin nur ein Bild wie «Zigeunerjunge in Andalusien». Es ist auf die Farben Grau, Rosa, Bleich- und Dunkelbraun aufge- baut, wobei den silbrigen und rosigen Tönen der Pri- mat zukommt. Man sollte meinen, dieser von den Malern des Dixhuitieme bevorzugte Zweiklang passe schlecht zur Darstellung eines zerlumpten Betteljun- gen. Aber seltsam: Unter dem Pinsel Varlins verliert er den Stich ins Luxuriós-Liebliche, wird er herb, streng, dem Gegenstand vollkommen angemessen. Wie denn überhaupt Varlins Farben — für sich genommen und im Zusammenklang — nicht nur durch Neu- und Seltenheit überraschen, sondern immer auch die Aufgabe haben, die Stimmigkeit einer Darstellung