Bois Mermet (Zuchthaus Lausanne), 1942 Ol auf Lwd., 46 X 54,5 cm in die Bresche; zuweilen aber musste er auf Zufalls- bekanntschaften zurückgreifen: Kellner, Küchenmäd- chen, Schuhputzer, Berufssoldaten usf. In wie hohem Grade er dabei die Individualität und die menschliche Würde der Dargestellten zu wahren wusste, kommt — um nur ein Beispiel zu nennen — auf dem grossarti- gen Bild «Arbeitslose Neapolitaner bewachen die Weih- nachtskrippe in der Galeria Umberto» zum Ausdruck. Der Mann im Vordergrund links zählt zu den eindrück- lichsten physiognomischen Studien des Malers. Wenn es noch eines weiteren Beweises für die konservative Grundhaltung dieses «Anti-Bürgers» be- darf: Als er im Alter von dreiundsechzig Jahren eine Familie gründete, siedelte sich der Mann, der vielen als Inbegriff des Grossstadtmenschen galt, in der Welt- abgeschiedenheit des Bergells an und führte in den vierzehn Jahren, die ihm noch beschieden waren, eine Existenz, die sich in nichts von derjenigen seiner Dorf- genossen unterschied. VARLIN UND DIE LITERATEN Als Varlin am 1. November 1977 auf dem Fried- hof von Bondo im Bergell begraben wurde, gaben ihm mit der Familie und allen Dorfbewohnern vorzüglich Dichter und Literaten .das letzte Geleit: Friedrich Dür- renmatt, Giovanni Testori, Max Frisch, Hugo Loetscher, Jürg Federspiel und andere. Der einzige bildende Künstler unter den Trauernden war der Karikaturist Hans Uli Steger. Diese auffallende Anteilnahme der Literaturwelt könnte vermuten lassen, dass Varlin ein intellektueller Maler gewesen sei, einer, der mit Gusto und Brillanz über Fragen der Kunst und den Zustand der Welt dis- kutierte. Nun, er war ein blitzgescheiter, er war auch ein ungewöhnlich belesener Mann; sein Wissen und seine Erkenntnisse aber verbarg er bewusst und hartnäckig hinter der Maske der Naivität. Die Faszination hin- gegen, die er je und je auf die Literaten ausübte, grün- dete auf seinem Vermögen, Beobachtungen präzis und überraschend zu formulieren, Persönlichkeiten mit we- nigen Sätzen zu verlebendigen — auf der Meisterschaft vor allem, mit der er die knappste epische Form be- herrschte: die Anekdote. weisen?» Varlin sucht in seinen Taschen, findet einen zerknüllten, sehr liebenswürdigen Brief des Zürcher Stadtpräsidenten und gibt ihn dem Polizisten anstelle eines Ausweises. Der Polizist liest, nimmt Achtungstel- lung an, salutiert und macht Rechtsumkehrt. Dafür drei Beispiele: Varlin malt in Zürich auf der Hohen Promenade. Beim Zusammenpacken seiner Siebensachen wirft er eine fast leere Tube Zinkweiss in den mit «Abfälle» bezeichneten Blechkasten. Am frühen Morgen des folgenden Tages — es ist noch nicht sechs Uhr — nimmt er die Arbeit wieder auf, vermisst Zinkweiss, erinnert sich an die weg- geworfene Tube, kramt im Abfallkasten und findet da- bei nicht nur das Gesuchte, sondern auch ein ange- brochenes Paket Biskuits. Er überlegt, dass dieses Backwerk ein gutes Vogelfutter ergäbe, legt es auf die Steinbank und zertrümmert es mit der Faust. In die- sem Augenblick klopft ihm jemand auf die Schulter. Es ist ein Polizist mit der Frage: «Was machen Sie da?» Varlin: «Sie sehen ja, ich frühstücke.» — «Ma- chen Sie keine dummen Witze: können Sie sich aus- La mort à Venise, 1956 BI auf Lwd.. 92x58 cm