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Varlin hat eine Art Selbstbiographie verfasst. Sie bricht 
1967, zehn Jahre vor seinem Tod, mit dieser Bilanz ab: 
«Ein Haus auf dem Lande, ein Kindermädchen, 
natürlich ein dazugehörendes Kind, den Zürcher Kunst- 
preis, eine Geschirrspülmaschine, meine Frau im Pro- 
zelotmantel, ein Fiat, immer saubere Fingernägel und 
Hosenbügelfalten.» 
Alles Vorangehende ist auf denselben humorig- 
ironischen Ton gestimmt, der jenen, in welchem sich 
der Maler gesprächsweise über seine Person äusserte, 
ziemlich genau wiedergibt. 
Zu dieser, oft mehrere Jahre überhüpfenden 
Selbstdarstellung kommen dann einige Texte, die Var- 
lin über seine Aufenthalte in Neapel, Malaga und New 
York geschrieben hat. Nimmt man das von ihm sel- 
ber zu Papier Gebrachte und die an verschiedenen 
Stellen gedruckten Nacherzählungen seiner mündli- 
chen Ausserungen zusammen, so hält man das in Hàn- 
den, was man die Varlin-Legende nennen kann. 
Sie diente ihm vor allem dazu, die Entwicklung 
seiner künstlerischen Persönlichkeit und seine wahre 
geistige Gestalt unter einem aus Bonmots, Boutaden 
und Anekdoten buntgewirkten Schleier zu verbergen. 
Das ist ihm nur zu gut gelungen, und der auf 
genaue Fakten und Daten angewiesene Verfasser einer 
Varlin-Dissertation kann einem leid tun. 
Die meiste Mühe wird dem künftigen Biogra- 
phen die für die Entwicklung des Malers entschei- 
dende Zeitspanne zwischen dem dreiundzwanzigsten 
und dem fünfunddreissigsten Lebensjahr bereiten. Var- 
lin hat sie in Paris verbracht, aber an Gesichert-Greif- 
barem ist darüber nur zu erfahren, dass er die Acade- 
mie Julian besuchte und gelegentlich Karikaturen für 
humoristische Pariser Blätter zeichnete. In das Jahr 
1930 fällt dann der oft erwähnte Vertrag mit dem be- 
rühmten Kunsthändler Leopold Zborovski und der da- 
mit verbundene Namenwechsel von Willy Guggenheim 
zu Varlin. Da Zborovski jedoch kurz darauf starb, wurde 
das Abkommen gegenstandslos. Vor allem aber ist von 
der Produktion der zwölf Pariser Jahre so verschwin- 
dend wenig erhalten geblieben, dass wir über die An- 
fänge eines Malers, der in seiner zweiten Lebenshälfte 
ein erstaunlich zahlreiches Oeuvre hervorgebracht hat, 
im Dunkeln tappen. 
Nicht durch Akten und Ziffern, aber durch Photo- 
graphien sind Varlins Kinder- und Knabenjahre belegt. 
Unter den Bilddokumenten, die die behütete Ju- 
gend Willys und seiner Zwillingsschwester Erna illu- 
strieren, ist vor allem eine im Jahre 1908 gemachte 
Aufnahme aufschlussreich. 
Sie zeigt die Familie Guggenheim in kunstvoll- 
durchdachter Gruppierung. Auf einem Salontisch, des- 
sen quastengesäumte, seidengefütterte Decke zur Hälfte 
zurückgeschlagen ist, hat Willy seine Bleisoldaten im 
Hof einer prächtigen Spielzeugburg aufgestellt. Der bär- 
tige Vater, Inhaber eines florierenden Lithographen- 
ateliers, betrachtet wohlgefällig das Tun seines Stamm- 
halters. Die Mutter und die ältere Schwester (die letz- 
tere ist, wie der Vater, nur vier Jahre, nachdem das 
Bild entstand, gestorben) — die beiden Damen sind in 
die Lektüre einer Zeitschrift vertieft, während Klein- 
Erna etwas abseits der Vierergruppe auf einem Stühl- 
chen sitzt und zärtlich auf die Puppe in ihren Armen 
herabblickt. 
Der Raum, in welchem sich das Familienidyll 
abspielt, verdient das Prädikat gut-, wenn nicht gar 
grossbürgerlich. Eine bemalte, mit Stukkaturen ver- 
zierte Decke, schwere Samtdraperien an den Fenstern, 
reichgeschnitzte Móbel, Olgemälde, Nippsachen auf 
Buffet und Vertico, der im japanischen Geschmack 
bestickte Wandschirm — ein Interieur der Gründer- 
jahre von geradezu exemplarischer Vollständigkeit, auf- 
genommen von einem Berufsphotographen, der die 
Kunst des Arrangements virtuos beherrschte. 
Es gibt zu dieser Photographie ein gemaltes, 
nur wenig später entstandenes Gegenstück. Ich meine 
das Familienbild, das Giovanni Giacometti in der Stube 
von Stampa geschaffen hat, und das mit Mutter und 
Geschwistern den mit Willy Guggenheim fast gleich- 
altrigen Alberto zeigt. Es bringt — in einer ganz an- 
dern Umwelt — die gleiche Behütetheit, das gleiche 
innige Einvernehmen zum Ausdruck wie die Aufnahme 
der Guggenheim-Familie. 
Varlin und Alberto Giacometti haben sich beide 
früh von der bürgerlichen Geborgenheit ihrer Eltern- 
häuser losgesagt und sich zu einer Boheme-Existenz 
bekannt, für die die beelendende Kargheit des Giaco- 
metti-Ateliers an der Pariser Rue Hippolyte Maindron, 
der chaotische Zustand von Varlins Arbeitsplatz am 
Zürcher Neumarkt beredtes Zeugnis ablegten. 
Im einen und im andern Fall aber war dieser 
Verzicht auf geordnete Verhältnisse nur eine Trotz- 
Geste, geboren aus der Erkenntnis, dass das Jugend- 
paradies unwiederbringlich verloren war. — 
Dass Varlin seiner Kindheit und frühen Jugend 
innig zugetan war, lässt sich leicht belegen. Pietät ge- 
hörte zu den Grundzügen seines Charakterbildes; nie 
Die Mutter, 1952 
Ol auf Lwd., 100 X81 cm 
Privatbesitz Basel